Weshalb hadern noch immer viele Eltern mit der Vereinbarkeit?

Die Arbeit genießt einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Sie dient nicht nur dem Broterwerb, sondern vor allem der Selbstentfaltung. Geld spielt (scheinbar) nur noch eine untergeordnete Rolle. Vielmehr will man im Beruf seine Talente zum Ausdruck bringen und weiterentwickeln – und damit nach Möglichkeit Anerkennung finden. Und: Der Job soll sich mit Familie und Freizeit vereinbaren lassen. Die Work-Life-Balance, von der schon seit Jahren die Rede ist, gilt vielen als maßgeblich im (Arbeits-)Leben.

Arbeitgeber-Ideal: Das familienfreundliche Unternehmen

Gerade größere Firmen sind sich der gewachsenen Ansprüche der ArbeitnehmerInnen bewusst – und sie gehen darauf ein. Ihre Antwort lautet Beschäftigung mit familienfreundlichen Arbeitszeiten, Wiedereinstiegsprogramme oder Home-Office-Regelungen. Wer es sich leisten kann, richtet sogar einen Betriebskindergarten ein, bietet dank Kooperationen mit Kulturstätten vergünstigte Tickets für diverse Freizeitangebote und kann eigene Sportplätze und Fitness-Center vorweisen. Ja, selbst der Hund kann mit ins Büro gebracht werden! Die Arbeit soll schließlich Spaß machen, Kollegen zu Freunden werden, damit der Arbeitnehmer sich letztlich mit dem Unternehmen und dessen Werten identifizieren kann.

In der ein oder anderen Firma funktioniert das so gut, dass „in diesem neuen Modell von Familie und Arbeitsleben der müde Vater oder die müde Mutter aus der Welt der ungelösten Konflikte und ungewaschenen Wäsche in die verlässliche Ordnung, Harmonie und gute Laune der Arbeitswelt flieht“.* Hier kann man sich überdies sicher sein, dass die eigene Leistung geschätzt wird. Zu Hause hingegen bedankt sich niemand, wenn man das Klo putzt oder Frühstücksbrote schmiert.

Wenn die Arbeit so viel Spaß macht, bleibt man auch gerne mal länger im Büro – was allerdings auf Kosten der Familienzeit geht. Im Endeffekt gerät die Work-Life-Balance in Schieflage und das auf Kosten der Familie bzw. Freizeit. 

In der Vereinbarkeitsdebatte ausschließlich dem Arbeitgeber die Schuld zuzuweisen, wäre allerdings naiv. Dass viele Mütter und Väter das Gefühl haben, der Tag sei schlicht zu kurz, um jedem gerecht zu werden, hat unterschiedliche Ursachen. Die Arbeit selbst ist nur eine von vielen.

Familienideal: Nur wer Kinder hat, kann glücklich sein

Zum einen liegt es an der bürgerlichen Kernfamilie (Mutter, Vater, Kinder), die – egal wie tolerant man sich gegenüber anderen Lebensmodellen gibt – das Ideal bei jungen Menschen darstellt. Einen Partner bzw. eine Partnerin zu finden, mit dem/der man schließlich Kinder in die Welt setzt, gilt als höchstes Ziel im Leben, das dem Dasein Sinn verleiht und dem man alles andere unterordnet. 

Insbesondere konzentriert man sich auf den Nachwuchs, dem man nicht nur eine wohlbehütete Kindheit bescheren möchte. Er soll auch von Geburt an bestmöglich gefördert werden. Kunst, Musik, Sport, Fremdsprachen und Auslandsreisen: Das Kind soll alles einmal ausprobieren, um seine Potenziale voll ausschöpfen zu können und sich zu einem „autonomen Wesen mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl“*** zu entwickeln. Bald schon wird vielen frischgebackenen Müttern und Vätern bewusst, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen hintanstellen müssen – und das nicht nur für den Moment, sondern über viele Jahre, gar Jahrzehnte. Sie sind nun quasi keine eigenständigen Persönlichkeiten mehr, sondern nur noch die Eltern ihrer Kinder. 

förderung von kindern
Bild von Ian Dunlop auf Pixabay

Fördern und Fordern: Die Kindererziehung im Optimierungswahn

Dieses Manko nehmen Eltern nicht nur in Kauf, damit das Kind Spaß hat, sondern vor allem um seinen späteren beruflichen Erfolg und damit einhergehend soziales Prestige zu sichern (was allgemein mit “Glück” assoziiert wird).

Es gibt also viel zu gewinnen, aber auch Einiges zu verlieren, wenn man es nicht „richtig“ anpackt. Die Erziehung des Kindes läuft daher nicht mehr einfach so nebenbei – sie ist zur Hauptaufgabe geworden. Und das kostet Zeit. Zeit, die für den eigentlichen Beruf fehlt. Aus diesem Grund sehen sich vor allem Mütter in der Pflicht, in Teilzeit zu arbeiten.

Doch nach wie vor wollen viele Männer und Frauen weder auf Kinder verzichten, noch auf eine eindrucksvolle Karriere. Und selbst wenn sie einen Großteil der Erziehungsarbeit an Kitas und Schulen outsourcen, fühlen sich einige Eltern noch immer überfordert. Denn die Optimierungszwänge, denen man eigentlich entfliehen wollte, indem man sich in die „Familienarbeit“ zurückzieht, haben sich peu à peu in die Kindererziehung eingeschlichen. Nun konkurriert man nicht mehr nur mit Kollegen im Job, sondern auch noch mit den anderen Eltern in seiner Freizeit.

Darüber hinaus ist das Leben oft unberechenbar. Im Hinblick auf die Bildungsinvestitionen in Kinder bedeutet das: 

Durch die Inflation der höheren Bildungsabschlüsse können Entwertungsprozesse stattfinden, so dass die Wahl der richtigen Schule für das Kind […] enorm an Bedeutung gewinnt und Fehlentscheidungen erhebliche Konsequenzen haben können. […] Etablierte Berufe können an Wert verlieren, neue Tätigkeiten ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. […] Der Faktor Zufall spielt dabei eine kaum zu unterschätzende Rolle.

Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten

Sind die Ansprüche zu hoch?

Hinzu kommen (zu) hohe emotionale Erwartungen: Die Ehe soll erfüllt und voller Wertschätzung sein, die Kinder glücklich und erfolgreich und der Beruf ein Hort der Selbstverwirklichung und des guten Gehalts. 

So zeigen sich die anderen Eltern doch auch, nicht wahr? Wir sehen ja, wie ausgezeichnet sie mit ihren Kindern klarkommen, wie sehr sie sich in Freizeitprojekten engagieren – obwohl sie Vollzeit arbeiten gehen und gutes Geld verdienen. Ja, die Erfolgreichen sind überrepräsentiert in einer Welt des ständigen Vergleichs. Das wiederum lässt „die eigene Unerfülltheit noch schmerzhafter hervortreten“.**

Ich kann daher voll und ganz verstehen, wenn Männer und Frauen angesichts des Vereinbarkeitsproblems mit einem Verzicht auf Nachwuchs reagieren. Ich selbst habe auf eine Karriere verzichtet. Allerdings schon lange bevor ich Kinder bekam: Bereits in der Schule war mir klar, dass ich niemals irgendwo angestellt sein möchte, sondern stets völlig frei arbeiten will. Entsprechend wenig verdiene ich, im Gegenzug aber habe ich Zeit. Ich musste nie zur Kita hetzen, um meine Kinder rechtzeitig abzuholen, mache mit ihnen Hausaufgaben, ohne auf die Uhr zu schauen, spiele mehrmals in der Woche mit Freundinnen Tennis und chauffiere die Kids auch gerne mal weitere Strecken zu ihren jeweiligen Play-Dates. Und zwischendurch schreibe ich mal einen Artikel wie diesen hier. Von Stress kann keine Rede sein, zufrieden bin ich obendrein.

Dafür genieße ich jedoch kein soziales Prestige, denn ich gehöre nicht zu den Erfolgreichen in unserer Gesellschaft. Ein Umstand, der mir als Frau zwar weniger zum Vorwurf gemacht wird als Männern in vergleichbarer Situation, der mich aber trotzdem lange gewurmt hat.

Mittlerweile bin ich gelassener geworden und zu dem Schluss gelangt, dass man nicht alles haben muss im Leben. Man sollte allerdings erkennen, was einem wirklich wichtig ist.

LG Anne!!!


*Arlie Hochschild: Keine Zeit. Leske und Budrich Verlag

**Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag Berlin

***Hartmut Rosa: Resonanz. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

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