Jungs brauchen sowas nicht: Wie Eltern das (Des-)Interesse an Kultur fördern
Malerei, Literatur, Theater, Musik, Tanz,… = Mädchensache?
Schnupperstunde im Kinderchor. Töchterlein hatte eigentlich keine Lust, hinzugehen, wurde von mir aber gedrängt: „Du willst doch Sängerin werden. Also musst du deine Stimme trainieren.“ Ich möchte keinesfalls, dass das Mädchen Sängerin wird – sie soll „was Anständiges“ lernen! Ihr Berufswunschtraum diente mir lediglich als Aufhänger, damit sie sich freiwillig kulturell bildet.
Schon vor der Schnupperstunde war mir klar, dass der Kinderchor auch „Mädchenchor“ heißen könnte. Kein einziger Junge am Start. Im hiesigen Orchester der Musikschule spielen immerhin zwei männliche Exemplare mit. Oder war’s doch nur eines? So wie beim Kinderballett, wo ein einziger Quotenjunge mittanzt. Wenigstens die Theater-AG ist gut durchmischt, was allerdings darauf zurückzuführen ist, dass „Theater“ das Projekt einer ganzen Klasse und somit Teil des Unterrichts ist.
69 Prozent der Mädchen halten ein Grundwissen über Kultur für wichtig, hingegen nur 48 Prozent der Jungen. (Quelle: Rat für Kulturelle Bildung)
Kunst und Kultur sind nicht jedermanns Sache. Jungen interessieren sich eben für andere Dinge, Sport zum Beispiel, Technik und Naturwissenschaften. Dass es aber derart homogen zugeht, wundert mich doch.
Musik? Nein, danke.
Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, waren da nämlich immer Jungs im Chor, Orchester, selbst in der Kunst-AG. Sie waren zwar stets in der Unterzahl (ausgenommen das Blasorchester, weil der Leiter dort keine Mädels haben wollte), aber sie machten mit, waren Teil des Ganzen. Mittlerweile sucht man sie vergeblich.
Da ich Mutter eines Jungen bin, muss ich mir wohl an die eigene Nase fassen. Ich habe je versucht, Sohnemann kulturaffin zu polen. Eine Schnupperstunde bei der Klavierlehrerin hat er zwar absolviert, danach war sein Urteil allerdings gnadenlos: Schick mich da NIE WIEDER hin!!!
Willst du vielleicht Gitarre lernen?
Nö.
Zum Kinderchor?
WAS??? Niemals.
Okay.
Ich habe ihn wohl zu leicht davonkommen lassen.
Der Kulturbegriff ist dehnbar
Nächster Versuch: Theater. Zugegeben, es war ein Ballett, mein Lieblings-Ballett „Der Nussknacker“. Ich habe mich wie Bolle drauf gefreut. Seit meiner Kindheit liebe ich den Nussknacker. Die Musik, die Story, die Kostüme, Tänze, einfach alles. Sohnemann fing mitten in der Vorstellung an zu weinen. Vor lauter Frust und Wut. Wir mussten vorzeitig gehen. In dem Moment habe ich aufgegeben.
Der Junge orientiert sich einfach zu sehr an seinem Vater, einem Mann, der sich vermutlich lieber beide Beine abhacken würde, als ins Ballett zu gehen. Dafür können die beiden Herren Stunden damit zubringen, diverse Kriegsspiele durchzuzocken. Das verbessert zumindest ihre kognitiven Fähigkeiten. Außerdem entsprechen sie offenbar vollkommen dem momentanen Männlichkeitsideal. Erst virtuelle Monster abschlachten, danach Youtube-Filmchen zusammenschneiden. Immerhin sind Filme ja auch irgendwie Kultur, oder?
Die Rollen sind beängstigend klar
Dass Jungen und Mädchen so sattelfest in ihren Rollen sitzen, sich geradezu konservativ verhalten, empfinde ich als seltsam rückwärtsgewandt.
Mit Befremden beobachte ich zum Beispiel den gegenwärtigen Trend zur Verkleidung: Eltern kaufen ihren Söhnen tatsächlich Miniatur- Workwear namhafter Hersteller. Sicherlich nicht ganz billig, aber damit sehen die kleinen Jungs genauso aus wie ihre Papis, denen bei diesem Anblick sicherlich das Herz aufgeht. „…und in dieser praktischen Tasche kannst du deinen Zollstock verstauen…“ Ob das Oskarchens Weg zum Professor für Sozialwissenschaften ebnet, bleibt abzuwarten.
Fest steht, es braucht nicht viel, um anzuecken. Ein Junge muss lediglich Pink tragen.
Fast noch schlimmer aber trifft’s die kleinen Mädchen, denn was deren Spielzeug angeht, habe ich oft das Gefühl, die Industrie veralbere sie geradezu. Ponys mit Fischschwanz. Eigentlich müssten mir die Augen aus dem Kopf fallen vor Entsetzen. Tatsächlich aber habe ich mich an ihren grotesken Anblick gewöhnt. Und irgendwann war sogar der Punkt erreicht, an dem ich die kleinen Mutanten niedlich fand. Genauso wie die glitzernden Tutus, die glitzernden Schuhe und die glitzernden Wand-Tattoos. Du wirst nicht einfach nur blind für den ganzen Scheiß. Irgendwann willst du ihn sogar und gibst dein hartverdientes Geld dafür aus.
Die Heldinnen meiner Tochter sind mindestens genauso nervtötend wie die Youtube-Stars, denen Sohnemann täglich beim Daddeln zuschaut. Was mich davon abhält, Fillys, Ladybug und Mia & Me zu verteufeln, ist der Umstand, dass ich ähnlich Grauenhaftes selbst in meiner Jugend konsumiert habe. Schon damals gab es kein Entrinnen.
Pippi Langstrumpf zählte jedenfalls nicht zu meinen Vorbildern. Stattdessen habe ich die langen Mähnen meiner zahlreichen Barbies gekämmt, sie sogar in Pose gebracht und abfotografiert. Auch ich liebte Tutus und ganz viel Glitzer. Tu ich heute noch, allerdings ist karrieretechnisch auch nicht viel passiert seit meiner Jugend. Statt Vorstand eines DAX-notierten Unternehmens zu sein, hocke ich im Homeoffice und schreibe schlechtbezahlte Texte.
Ob da ein Zusammenhang besteht?
Wer weiß.
LG Anne!!!